Vereinfachte Netzanschlüsse und mehr Systemstabilität sind das Ziel der Änderungen der VDE-AR-N 4110 und 4120. Sie eröffnen neue Möglichkeiten, die Anschlüsse effizienter und zukunftsfähiger gestalten, ohne dass dies zu Lasten der Netzstabilität geht.
100 Prozent erneuerbare Energien bis 2035: Um dieses Ziel zu erreichen, schreitet der Systemausbau weiter voran. Doch damit ist nicht nur eine Stärkung der Systemstabilität dringend erforderlich. Auch eine Vereinfachung der steigenden Zahl von Netzanschlüssen ist von größter Relevanz, um das Gelingen der Ziele sicherzustellen. Da ist sich die Branche einig. Entsprechend erfreulich sind die umfassenden Änderungen der Technischen Anschlussregeln (TAR) für Mittel- und Hochspannung VDE-AR-N 4110:2024-11 und 4120:2024-11, die auf dem auf dem VDE FNN Infotag Ende September vorgestellt wurden. Sie reichen von einer Harmonisierung der beiden Anschlussregeln über die Anpassung der Schutzanforderungen bis hin zu Beiträgen der Erzeugungsanlagen zur Systemstabilität und Neuheiten beim Netzanschluss.
Mittelspannungsbereich im Fokus
Für den Mittelspannungsbereich, also den Wirkungsbereich der VDE-AR-N 4110:2024-11, kommt mit den Anpassungen eine netzsicherheitsbasierte Primärregelung hinzu, die Erzeugungsanlagen dazu verpflichtet, die Frequenzstabilität stärker zu unterstützen. Diese ist dadurch bedingt, dass das Netz immer weniger Momentanreserve aufgrund von weniger Massenträgheitsmomenten (Synchrongeneratoren) aufweist. Daher muss es erhöhte Robustheitsanforderungen (RoCoF) erfüllen, was zu veränderten Dynamikanforderungen führt.
Mit der netzsicherheitsbasierten Primärregelung werden nun die Steuerungsmöglichkeiten für Netzbetreiber bei fernwirktechnischer Anbindung erweitert. So soll die Leistung der jeweiligen Anlage bei einem erforderlichen Redispatch neben einem Pmax (aktuell) auch auf Pmin gesteuert werden können (besonders bei Hybridanlagen mit Speichern). Ergänzt wird das um eine kurative Netzführung. Bei Besonderheiten wie Starkwetterereignissen ist eine Aktivierung von Gradienten durch den Netzbetreiber vorgesehen. Eine nachvollziehbare Anpassung, für deren Umsetzung jedoch aktuell noch entsprechende Leuchtturmprojekte fehlen, die die genaue Vorgehensweise verdeutlichen. Hier kann erst die Zeit zeigen, welche neuen Herausforderungen daraus entstehen werden.
Kontinuierliche Spannungsregelung für mehr Systemstabilität
Ebenfalls auf die Sicherung der Systemstabilität zahlt die kontinuierliche Spannungsregelung für alle Erzeugungsanlagen ein. Darüber hinaus nehmen die Anpassungen der VDE-AR-N 4110:2024-11 unter anderem das Blindleistungsverhalten von Speichern in den Blick. Sie fordern eine Bereitstellung von Blindleistung auch im Ladebetrieb. Zudem muss beim Wechsel zwischen den Betriebsbereichen, also Entladung und Ladung, der Teillastbereich bei vollem induktiven oder kapazitiven Blindleistungsverhalten temporär durchfahrbar sein. Dies ist wichtig, damit beim Betriebswechsel im Teillastbereich Blindleistungseinbrüche vermieden werden.
Ein Vorteil für die Betreiber von Mischanlagen ist vor diesem Hintergrund die Verlegung des grundsätzlichen Messorts der Führungsgröße und dem Erfüllungsort der Blindstrombereitstellung an die Erzeugungsanlagen, die eine Nach- oder Umrüstung von (teuren) Mittelspannungs-Mehrkernwandlern gegebenfalls überflüssig macht. Im Falle einer Q(U)-Kennlinie ist dies anders, sodass weiterhin eine mittelspannungsseitige Messung am Netzanschlusspunkt benötigt wird.
Schutzanforderungen angepasst
Eine deutliche Vereinfachung und neue Möglichkeiten gehen auch mit den veränderten Schutzanforderungen einher, beispielsweise dem Wegfall des Q(U)-Schutzes. Darüber hinaus dürfen der übergeordnete und der zwischengelagerte Entkopplungsschutz gemeinsam auf einen Kuppelschalter wirken, sofern zwei Auslösespulen vorhanden sind. Die externe permanente automatische Volt- und Frequenzüberwachung (PAV, E) wird derweil Teil der Schutzprüfung. Nicht zuletzt muss bei einer USV-Störmeldung bei Anlagen mit einer fernwirktechnischen Anbindung künftig innerhalb von zwölf Stunden eine Reaktion des Anlagenbetreibers erfolgen, um eine Trennung der Erzeugungsanlage durch den Netzbetreiber zu vermeiden. Hier werden also Anlagenbetreiber weiter in die Pflicht genommen. Bislang ist jedoch noch unklar, wie eine Umsetzung dieser Forderung aussehen kann und inwieweit es zu tatsächlichen Abschaltungen nach zwölf Stunden kommen wird. Hier bleibt es also spannend.
Harmonisierung schreitet voran
Mit Blick auf beide Technischen Anschlussregeln wird vor allem eine weitere Harmonisierung sichtbar. Diese schafft mehr Einheitlichkeit und ist daher zu begrüßen. Zwar verbleiben Unterschiede, beispielsweise bezüglich dem Blindleistungsstellbereich in der Hochspannung und der Pufferzeit der unterbrechungsfreien Stromversorgung (USV), aber diese mindern die positive Entwicklung nicht.
Besonders hervorzuheben sind die Vereinfachungen bezüglich des Netzanschlusses und des Nachweisprozesses, die mehr Effizienz ermöglichen sollen. Vorteile soll hierbei beispielsweise ein Buchstabenwechsel in der TAR 4105 bieten, deren Formulare nun F1 bis F11 heißen werden. Zudem werden diverse Formulare beider Anschlussregelungen nachgeschärft, um Klarheit zu schaffen und den Informationsfluss zu verbessern. Einher geht damit die Verringerung des bilateralen Austauschs zwischen Projektentwickler und Netzbetreiber, was zeitliche Aufwände reduziert und somit neue Möglichkeiten für zeitnahe Projektabschlüsse schafft.
Deutliche Vereinfachungen bieten Mehrwerte
Ebenfalls für mehr Geschwindigkeit beim Netzanschluss sorgt die neu geschaffene Möglichkeit, die Inbetriebsetzungserklärung durch die Zertifizierungsstelle zu erstellen, sofern der Netzbetreiber innerhalb von vier Wochen keinen Termin zur Inbetriebsetzung vorschlägt.
Aus der Novelle der Elektrotechnische-Eigenschaften-Nachweis-Verordnung (NELEV) von Mai 2024 wird per Verweis der vereinfachte Netzanschluss für den privilegierten Leistungsbereich unter 500 Kilowatt übernommen, mit der die Energieanlagen-Anforderungen-Verordnung (EAAV) bei gleichbleibenden Pflichten abgeschafft wird.
Auch im Bereich von Bestandsanlagen beinhalten die Änderungen der Technischen Anschlussregeln eine Vereinfachung: Für Anlagenerweiterungen um maximal fünf Prozent bis maximal 500 Kilowatt ist derweil keine Neuausstellung des Anlagenzertifikats mehr erforderlich.
Fazit
Insgesamt können die Anpassungen der VDE-AR-N 4110 und 4120 gutgeheißen werden, da sie auf die Ziele der Branche einzahlen. Hierzu tragen auf der einen Seite die weitere Harmonisierung und die Vereinfachungen der Netzanschlüsse und -nachweise bei, wie sie von Anlagenbetreibern, Herstellern und Projektentwicklern gewünscht sind. Auf der anderen Seite werden die von den Energieversorgern geforderten neuen Pflichten zur Sicherung der Systemstabilität in die Technischen Anschlussregeln aufgenommen. Damit entstehen spürbare Veränderungen, die neue Möglichkeiten erschließen, jedoch auch Herausforderungen mit sich bringen. Denn was aktuell noch fehlt, ist bei der kontinuierlichen Spannungsregelung und netzsicherheitsbasierten Primärregelung eine genaue Vorstellung von den Maßnahmen, die zur Umsetzung der Anpassungen ergriffen werden müssen. Erst damit werden die Anpassungen ihr volles Potenzial entfalten.
— Der Autor Markus Grosse Gorgemann ist Geschäftsführer der Energielenker Solutions GmbH und entwickelt gemeinsam mit seinem Team smarte Produkte für optimierte Betriebsabläufe und Energieeffizienz. Mit seinem Hintergrund in Wirtschaftsinformatik verbindet er technische Expertise mit praktischem Projektmanagement – ideal, um innovative Energielösungen erfolgreich umzusetzen. —
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