Wenn globale Handelskonflikte plötzlich eskalieren, geraten minutiös geplante Produktlaunches ins Wanken. Zuletzt verdeutlichte die deutsche Marktreaktion auf die Wirtschaftspolitik von US-Präsident Donald Trump, wie heftig die hiesige produzierende Industrie auf sich kurzfristig verändernde, äußere Umstände anspringt. Sie entlarvt strukturelle Schwächen in der Produktentwicklung, für die mehrheitlich starre Entwicklungsprozesse Verantwortung tragen. In diesem globalwirtschaftlich volatilen Umfeld drohen Unternehmen, die weiterhin auf lineare Abläufe setzen, den Anschluss zu verlieren und erheblich an Wettbewerbsfähigkeit einzubüßen. Die deutsche Industrie braucht einen Paradigmenwechsel, um an Tempo zu gewinnen und entscheidende Marktchancen zu nutzen. Der Beitrag zeigt anhand eines konkreten 8-Punkte-Plans, wie ein adaptiver Entwicklungsansatz Hersteller darin unterstützt, Flexibilität auf allen Ebenen zu wahren.
Starre Strukturen erschweren Innovation
Was einst als Garant für saubere Produktentwicklung galt, mutiert zunehmend zum Innovationshemmnis. Seit den 1980er-Jahren in Industriefirmen etabliert, zielt der klassische State-Gate-Prozess auf maximale Kontrolle und Fehlervermeidung. In der Praxis führt dieses Vorgehen zu Aufgabenfragmentierung, Silodenken und lähmenden hierarchischen Gefügen. Fachabteilungen operieren wie in isolierten Mikrokosmen, in denen Führungskräfte die Entscheidungsgewalt innehaben und Projektgruppen zu Umsetzungsgehilfen degradieren. Unternehmen, die so arbeiten, ignorieren, dass Märkte längst nach Iteration, Geschwindigkeit und Gemeinschaftsverantwortung verlangen. Während dynamische Wettbewerber ihre Minimum Viable Products – die erste minimal funktionsfähige Iteration eines Produkts – bereits im Markt testen, stolpern viele der hiesigen Forschungs & Entwicklungs (F&E)1-Abteilungen über ihre eigene Prozesskomplexität.
Der 8-Punkte-Fahrplan
In der Solarbranche prägen sich wandelnde Regulatorien, rasch sinkende Marktpreise und internationaler Wettbewerbsdruck die Entwicklungszyklen. Die Forderung nach beschleunigten Innovationsprozessen ist hier besonders akut. Adaptive Methoden schenken den nötigen Spielraum für Geschwindigkeit und Dynamik. Sie entledigen F&E-Abteilungen ihrer starren Prozessstrukturen, die nun frühzeitig auf veränderte Markt-, Kunden- oder Tech-Anforderungen reagieren können.
Iterative Entwicklung statt starrer Phasen
Spezifikation, Konzeption, Entwicklung, Test: Produkte durchlaufen in kurzen Zyklen alle Entwicklungsphasen. Iteratives Arbeiten gewinnt für Hersteller an Relevanz, wenn sie neue Produktversionen schnell den Marktveränderungen anpassen müssen. Durch frühe Tests in realen Installationsszenarien lassen sich Produkteigenschaften verifizieren, bevor Hersteller in kostspielige Skalierungen investieren. Teams sind in der Lage, rasch Feedback einzuholen und Produkte kontinuierlich zu verbessern.
Modularisierung für parallele Arbeitspakete
Eine modulare Produktarchitektur zerlegt Produkte in verschiedene Komponenten, die einzelne Teams parallel zueinander entwickeln und testen, ohne sich dabei gegenseitig zu blockieren. Das reduziert gegenseitige Abhängigkeiten und beschleunigt die Entwicklung, Validierung und Freigabe.
Ownership in den Teams
Entscheidungen dort treffen, wo die Expertinnen und Experten sitzen: im Team. Wartezeiten auf Freigaben durch die Chefetage entfallen, zugleich steigen Arbeitseffizienz und Motivation durch die volle Verantwortungsübernahme der Mannschaft für den Projekterfolg. Leader agieren in diesem Kontext als Enabler.
Echte crossfunktionale Zusammenarbeit
Crossfunktionale Taskforces vereinen Know-how aus allen für die Produktentwicklung relevanten Arbeitsbereichen und profitieren dabei von ihrer Kompetenzvielfalt. So entstehen Lösungen, die technisch durchdacht, marktfähig und nah am Kunden sind. Das Risiko von Informations- und Reibungsverlusten sinkt erheblich. In der Solarindustrie zählt die enge Verknüpfung von Entwicklung, Einkauf, Zertifizierung und Vertrieb zu den kritischen Erfolgsparametern. Sie verhindern, dass Innovationen an Normvorgaben oder am Preisdruck scheitern.
Flexibilität bei Marktveränderungen
Märkte, Technologien und Kundenbedürfnisse unterliegen kontinuierlichem Wandel – so auch die Produktanforderungen. Arbeitskreise müssen in der Lage sein, Produktfeatures oder Zielmärkte kurzfristig umzusteuern. Iterative Methoden erlauben, Anforderungen kontinuierlich anzupassen und sorgen für eine stabile Produktperformance bei Markteintritt. Unternehmen, die ihre Prozesse nicht agil gestalten, riskieren Projektchancen zu verlieren.
Transparenz durch Backlogs
Ein klar priorisierter Backlog schafft Fokus und gewährleistet auch dem Management rechtzeitige Kurskorrekturen. Alle Projektbeteiligten haben Einsicht in Progress und nächste Arbeitsschritte.
Automatisierung zur Effizienzsteigerung
In der Fertigung ist Automatisierung selbstverständlich, in der Produktentwicklung hingegen nicht. Testautomatisierung beschleunigt in der Software-gestützten Elektronikentwicklung die Time-to-Market. Kurze Iterationszyklen und minimale manuelle Prüfaufwände begünstigen schnelle Releases und verschaffen Unternehmen einen Wettbewerbsvorteil per Geschwindigkeit.
Das Fail Fast-Prinzip
Technologien wie bifaziale Module, Floating-Photovoltaik oder großformatige Wafer zählen heute zwar zum Stand der Technik; dennoch bleiben viele Detailfragen in der praktischen Umsetzung komplex – etwa bei der Anlagenauslegung, Performance-Prognose oder Systemintegration. Genau hier entscheidet schnelles, experimentbasiertes Lernen: Testfelder, digitale Simulationen oder gezielte Prototypen helfen, unerwartete Wirkzusammenhänge früh zu erkennen, bevor sie in der Serienausrollung hohe Kosten verursachen. Das „Fail Fast“-Prinzip – „schnell scheitern, schnell lernen“ – meint dabei, Innovationen realitätsnah und risikobewusst voranzutreiben.
Von Prozessdenken zu Performancekultur
Zoll-Streit, Lieferengpässe, Rezession – Krisen bleiben Teil der Wirtschaftsrealität. In der Solarindustrie wächst aufgrund rascher technischer Weiterentwicklung, kurzen Marktzyklen und einem globalen Verdrängungswettbewerb der Innovationsdruck. Doch die eigentliche Herausforderung liegt tiefer: Der Übergang vom klassischen Stage-Gate-Modell zum adaptiven Ansatz verlangt einen grundlegenden Mindset-Shift. Führungskräfte geben Kontrolle ab, befähigen ihre Teams und schwören sie auf Mehrverantwortung und Entscheidungsmacht ein. Unternehmen, die schnelle und adaptive Produktentwicklung betreiben, gewinnen Zeit und Handlungsspielraum für Pricing, Partnerschaften und politische Rahmenbedingungen. Der richtige Moment für Veränderung ist jetzt. Industriefirmen, die Marktturbulenzen zu begegnen wissen, bleiben perspektivisch auf Kurs.
— Der Autor Jörk Hebenstreit ist promovierter Physiker. Als langjähriger Vorstand und Geschäftsführer bei global tätigen Technologieunternehmen lernte er neben unternehmerischem Denken auch die Bedeutung von strategischer Weiterentwicklung und Restrukturierung im Mittelstand und in Konzernen kennen. Seine ausgeprägte Führungs- und Managementerfahrung in Forschung, Entwicklung, Produktion, Qualitätsmanagement, Einkauf, Service, Supply Chain und Vertrieb führte ihn zu seiner Gründung von Agileus Consulting. Gemeinsam mit seiner Tochter Dagmar stellt er seitdem sein Know-how in den Dienst des Agile-Management.Mehr Informationen liefert Linkedin —
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